John Sinclair Nr. 1713: Carlotta und die Vogelmenschen

John Sinclair Nr. 1713: Carlotta und die Vogelmenschen


Plötzlich vergaß Valentin Durmott den Griff zur Kaffeetasse, denn aus dem Dunkel an der rechten Seite schoss ein großer Schatten hervor, der noch das Licht der beiden Lokscheinwerfer streifte und dann blitzartig verschwand. Durmott hätte beinahe geschrien. Er unterdrückte den Laut im letzten Augenblick, dafür spürte er sein Herzklopfen und fing zugleich an zu zittern. Was hier vorgefallen war, das hatte er noch nie erlebt. Aber er hatte sich den Schatten auch nicht eingebildet, er war da gewesen, und er war von der rechten Seite herangehuscht. Ein Vogel?


von Jason Dark, erschienen am 10.05.2011, Titelbild: Bondar
Rezension von VoXpOpZ:


Kurzbeschreibung:
Johnny Conolly verbringt ein paar Urlaubstage in Dundee. Auf einer nächtlichen Flugtour mit Carlotta stößt er auf mysteriöse Riesenvögel, die einen Zug angreifen und den Schaffner Edwin verschleppen. Die Kids verfolgen die Kreaturen bis in einen Wald. Hier werden sie Zeugen einer Zeremonie, bei der dem Schaffner die Augen ausgehackt werden. Die beiden erfahren, dass Edwin die Schlüsselfigur in einem Streit zwischen einer Gruppe Naturfreunde und Eisenbahnmitarbeitern darstellt. Weil Edwin den Ausbau der Eisenbahntrasse nahe Dundee nicht verhindern konnte, soll er den Monstervögeln geopfert werden. Doch Johnny und Carlotta gelingt es, den Blinden zu befreien und mit ihm zu fliehen.


Meinung:
Das Positive vorweg: mit "Carlotta und die Vogelmenschen" gibt es endlich wieder einen Roman, der es wagt, auf die Titelfigur zu verzichten. Das ist ein immer wieder mutiger Schritt, den es an dieser Stelle zu loben gilt - vor allem vor dem Hintergrund, dass die Geschichte einmal mehr den "jungen Wilden" gehört. Doch leider scheitert die Umsetzung der guten Idee grandios.
Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass der Autor es vermeidet, sich auf eine Hauptfigur festzulegen. Zwar heißt das Heft "Carlotta und die Vogelmenschen", es könnte aber genauso gut "Johnny und die Vogelmenschen" oder "Carlotta und Johnny und die Vogelmenschen" heißen. Die verdammte Unentschlossenheit des Verfassers bringt ihn dann auch prompt ins Straucheln: er switcht beim Schreiben dermaßen unelegant zwischen Carlotta und Johnny hin und her, dass er dabei weder der einen noch der anderen Figur gerecht wird.
Aber noch eine andere Sache vergeigt der Schreiber gehörig. Wenn es in dieser Geschichte doch um die beginnende Freundschaft (oder sogar Liebe?) von Carlotta und Johnny geht, ist die erste Begegnung der beiden ein wichtiges, grundlegendes und wegweisendes Element. Aber ausgerechnet diese Begegnung findet im Off statt. Der Leser erfährt nichts über diese emotionale Szene, gar nichts. Die Handlung setzt kurioserweise einen Tag vor Johnnys Rückreise nach London ein, zu einem Zeitpunkt also, an dem er und Carlotta schon einige Zeit miteinander verbracht haben. Leider kommt aber an keiner Stelle des Hefts auch nur annähernd das Gefühl auf, hier zwei junge Menschen zu begleiten, die sich ein paar Tage lang kennen und mögen gelernt haben. Die Kids werden lieblos und oberflächlich beschrieben, im Vergleich zur authentischen Schilderung der Jugend in den Romanen 1708 / 1709 wirken sie so lebendig wie ein gepfählter Vampir. Dieser krasse Widerspruch in der Figurengestaltung berechtigt zu der Frage, ob das Heft vom gleichen Autor verfasst wurde. Der typische Rellergerd-Stil kommt bei der Lektüre dieses Hefts jedenfalls nicht wirklich durch und insgesamt erinnert der Carlotta-Roman eher an "Letzte Zuflucht: Hölle" als an den besagten Johnny-Doppelband.
Wie in jenem Heft (JS 1693) ist der Handlungsverlauf zäh und logisch brüchig, die Geschichte als solche ist schlicht und ergreifend zu dünn. Erklärungen und Hintergründe (total abgedroschen: als Vögel verkleidete Naturfreunde, die den Bau der Eisenbahntrasse verhindern wollen) werden in Halbsätzen geliefert, das Lesen macht und macht einfach keinen Spaß. Die letzten 15 Seiten beispielsweise, auf denen Johnny und Carlotta den blinden Schaffner zu retten versuchen, sind derart langweilig und redundant, dass der Lesespaß zur echten Qual wird. Man kann dieses letzte Stück Roman vielleicht am besten mit einem Film vergleichen, der eine halbe Stunde lang nur im Dunkeln spielt: man hört Leute keuchen und schreien, aber nichts kommt wirklich voran.
Die krude Episode um den Schaffner mit den ausgehackten Augen ergibt insgesamt keinen Sinn, weil sie nicht aus seiner Person heraus erzählt wird. Die Tragik der grausamen Folter, die er erleben muss, verkommt zur Oberflächlichkeit. Edwin (ironischerweise ist er nicht einmal einen Nachnamen wert) wird irgendwie mitgeschleppt und hat die Ausstrahlung eines unhandlichen Requisits, nicht den Charme einer Herzfigur. Unverständlich, warum der Verfasser nicht Valentin Durmott, der durch das Einstiegskapitel zumindest in Ansätzen Tiefe bekommt, zum Opfer der Vogelmenschen gemacht hat.
Dass Mandragoro, das dämonische Moment hinter der ganzen Aktion, keinen Auftritt bekommt, ist genauso wenig zu fassen wie Maxines letztendlicher Entschluss, die ominöse Gruppe um die Vogelmenschen nicht näher zu beleuchten und einfach wegzufahren. Das ist nicht nur eine Frechheit gegenüber dem Leser, der um eine echte Auflösung gebracht wird, sondern stellt auch infrage, ob die Figur ihrer Verantwortung als Ärztin gerecht wird, wenn sie einen angeschossenen Menschen einfach seinem Schicksal überlässt und abhaut.
Alles in allem ist "Carlotta und die Vogelmenschen" ein trauriger Tiefpunkt der Sinclairserie. Ein Roman, den auch Johns Anwesenheit nicht gerettet hätte. Johnny vertritt seinen Patenonkel würdig und macht seinen Job gut, soweit der Autor ihn eben lässt. - Nur weil die Geschichte für Johnnys Weiterentwicklung in der Serienchronologie wichtig ist, bekommt sie ein Kreuz. Ansonsten voll verhauen, Mr. Ghostwriter.


Besonderheiten:
- Roman ohne John Sinclair.
- Die Geschichte spielt parallel zu Band 1711 / 1712, also zeitgleich mit den Ereignissen um den Mond-Mönch in Russland.
- Johnny ist nach den Ereignissen in Band 1708 / 1709 wieder bei seinen Eltern eingezogen.


1 von 5 möglichen Kreuzen:
1 Kreuz


Kommentare zum Cover:

Sehr schönes, sehr unheimliches Cover, das die Zeremonie der Vogelmenschen zeigt. Leider verlegt der Autor das Geschehen aus der Felsenkirche in einen ordinären Wald. Wegen seiner ansprechenden Farbwahl, seiner Liebe zum Detail und der atmosphärischen Ausstrahlung erhält das Cover die volle Punktzahl. Sehr ansprechend, sehr schön!


Coverbewertung:
5 Kreuze