Silber-Grusel-Krimi Nr. 91: Die Pranke der Sphinx
Silber-Grusel-Krimi Nr. 91: Die Pranke der Sphinx


Ich darf nie zulassen, daß diese Schrift in falsche Hände gerät, ging es ihm durch den Sinn, während die Papyrusrolle zwischen seinen Fingern raschelte, als er sie zusammenrollte. Der Ägyptologe wirkte aschfahl. Sein graues, stumpfes Haar hing strähnig an den Seiten herab, seine Schädeldecke schimmerte durch sein schütteres Deckhaar. Edgar Bauser, angesehener Forscher, stammte aus Stuttgart und lebte dort am Stadtrand seit zehn Jahren. Er hatte die ganze Welt bereist, kannte Ägypten wie kein zweiter, war aber nun zu alt, um neue Expeditionen zu unternehmen. Was er vor zehn Jahren entdeckt hatte, wußte nicht mal die Fachwelt, denn er hatte seinen Fund verschwiegen. Bauser schob die Rolle beiseite und zog einen Bogen vor sich. Der Mann schrieb eilig einen Brief, als dränge die Zeit. Furcht erfüllte ihn. Er wußte: Er konnte den Papyrus nicht vernichten. Das brachte Unheil. Er durfte aber auch nicht zulassen, das er benutzt wurde. Auch das brachte Unheil. Er faltete den Brief zusammen, adressierte den Umschlag, verschloß ihn und klebte noch eine Briefmarke darauf. Mühsam erhob er sich. Die alten Beine wollten nicht mehr so recht. Der Schreibtisch war durch eine Lampe hell ausgeleuchtet, der Rest des Zimmers lag im Dämmerlicht. Im Korridor stand eine alte, eichene Kommode, darauf stand eine uralte Petroleumlampe, die seit Jahren nicht mehr gebrannt hatte und nunmehr Dekorationsstück war. Gegen den Fuß dieser Lampe stellte er den Brief. Das Mädchen, das morgens zum Putzen kam, würde den Brief mitnehmen. Oder sollte er selbst doch noch den Weg bis zum nächsten Briefkasten machen und ... Da hörte er das Geräusch im Hausflur. Vom Stockwerk über ihm kam jemand die Treppe herab.


von Jürgen Grasmück, erschienen am 20.05.1975, Titelbild: R.S. Lonati