Leseprobe zu Christoph Schwarz Nr. 1: Die Brocken-Hexen:

Dunkelheit hüllte den Brocken ein, als ich an jenem Abend gegen halb zehn den Gipfel erreichte. Die Bahn war bedeutend voller gewesen als am Vormittag. Menschenmassen strömten nun aus dem Bahnhof hinaus zu jenen Stätten, an denen die Feiern beginnen sollten. Feuer brannten, Musik erklang und es roch nach verbrennendem Holz sowie heißen aromatischen Getränken.
Auch wenn Walpurgis noch einen Tag entfernt war, ließen es sich die Menschen nicht nehmen, schon mal Vorfeiern abzuhalten. Warum das Ereignis auf einen Tag beschränken, wenn man auch an zwei besoffen sein kann? Okay, ein ketzerischer Gedanke, der mir da kam. Für viele war diese Feier doch mehr als nur ein großes, buntes Besäufnis. Das sah man schon an dem Schmuck und an der Kleidung, die manche trugen. Sogar manche, die sich als Druiden ausgaben, waren vertreten und auch solche die sich äußerlich als Hexen gaben, als wollten sie unbedingt einem Stereotyp entsprechen.
Hinter mir verließ Pater Benedikt den Zug und nickte mir knapp zu. Wir hatten vereinbart, getrennte Wege zu gehen, uns aber gleichzeitig auch nicht zu weit von einander zu entfernen. Sollte geschehen, was er befürchtete, brauchte es eventuell unserer beider Fähigkeiten. Geschah es nicht, hatte ihn niemand gesehen und mit mir in Verbindung gebracht.
Ursprünglich wollte ich mich außerhalb des Bahnhofs mit Natalie Ochsenreiter treffen, oben beim Gipfelwirt. Aber dazu kam es nicht mehr, denn die Wicca Anhängerin kam mir bereits im Bahnhof entgegen.
"Haben Sie meine Freundinnen gesehen? Saßen sie im Zug?"
"Woher soll ich das wissen? Der Zug war überfüllt. Zudem kenne ich die Frauen nicht einmal. Außer Patrizia Köhler, aber sie wird nicht mehr aussehen wie auf dem Foto, welches ich von ihr habe."
"Verdammt - sie sind nicht da. Sie sind weg, verstehen Sie?"
"Nein."
Meine Stimme drückte nun den Unmut aus, den ich empfand. Mein erster Verdacht war, dass sie ein Spiel mit mir spielte. Verschwundene Freundinnen konnten auch bedeuten, dass etwas mit Patrizia Köhler nicht stimmte und sie mir nun die Unschuld vom Lande vorspielte.
"Nun - das Gegenteil von da ist weg. Als ich zu unserem Versammlungsraum kam, war er leer. Also dachte ich, sie seien vorgegangen. Aber hier ist niemand. Und auch auf meine Anrufe reagieren sie nicht. "
"Frau Ochsenreiter - wenn das ein mieser Trick sein soll, werde ich sauer. Besser, Sie spielen keine Spiele mit mir. Sonst hole ich die Kollegen von der Polizei, und dann tanzt hier nicht die Hexe, sondern der Teufel."
Sie stemmte ihre Hände in die Hüften, während sie mich wütend anfunkelte. Sie war panisch und wütend. Meine Intuition sagte mir, dass sie kein Spielchen mit mir trieb.
"Also schön", lenkte ich ein. "Suchen wir uns einen ruhigeren Platz als hier im Gewühl. Mal sehen, was mit Ihren Freundinnen geschehen ist."
Damit schoben wir uns durch das Gedränge, welches nahe dem Bahnhof noch herrschte und schauten uns suchend um. Es war schwer, an solch einem Ort und an solch einem Abend einen ungestörten, zumindest einigermaßen ruhigen Platz zu finden, um sich zu unterhalten. Schließlich fanden wir innerhalb des Bahnhofs etwas Ruhe, da im Moment kein Zug abfuhr oder ankam. Auch wenn im vorderen Bereich, zum Gipfel hin, ein paar Frauen lachten, war es im hinteren Winkel ruhiger.
"Also schön - Sie wollten sich in ihrem Versammlungsraum treffen. Wo genau ist das?"
Die Ochsenreiter schüttelte den Kopf.
"Das spielt doch keine Rolle. Wichtig ist, dass sie nicht dort waren. Aber das erstaunte mich noch nicht. Erst, als ich sie auch hier nicht finden konnte ..."
Mir war klar, worauf sie hinaus wollte.
"Rufen Sie noch einmal die Handys der drei Frauen an. Oder haben nur zwei von ihnen Mobiltelefone?"
"Nur zwei, ja. Patrizia Köhler besitzt kein Handy. Na gut, rufe ich sie noch mal an. Obwohl ich sie schon oft ..."
Sie sah meinen ungeduldigen Blick, griff nach ihrem Mobiltelefon und wählte die erste Nummer. Ihr Blick flackerte etwas. Die Panik war geblieben, der Zorn gewichen.
"Nichts. Der gewünschte Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar."
"Dann die zweite Nummer."
Abermals wählte Natalie Ochsenreiter, wartete kurz und schüttelte dann frustriert den Kopf, ehe sie das Handy in der Jackentasche verschwinden ließ.
"Der Anrufbeantworter. Ich soll eine Nachricht hinterlassen, aber das hab ich schon x-mal getan. Verdammt, was läuft denn hier?"
"Keine Ahnung." Lilith fiel mir ein. Vielleicht hatte sie ja bereits ihre Hände im Spiel. Eine alte Seele, die sich ihre Anhängerinnen sucht. Wer weiß, vielleicht waren die drei Frauen ja bereits Opfer der Lilith geworden. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich den Pater. Er war unauffällig näher gekommen. Offenbar war auch ihm anhand unserer Gesten und unserer Mimik aufgefallen, dass hier etwas nicht stimmte. Hören konnte er uns jedoch kaum, denn der Geräuschpegel war doch zu hoch, um auf Distanz einzelne Worte zu verstehen. "Wir werden es herausfinden. Mir gefällt nicht, dass Patrizia Köhler nun zum zweiten Mal verschwunden ist."
"Mir auch nicht", giftete mich Natalie Ochsenreiter an. "Denn diesmal ist sie wirklich weg."
"Das dachten Ihre Eltern und Freunde vor einem Jahr auch. Gut, dass Sie es nun am eigenen Leib erfahren."
Ihr Blick änderte sich.
"Aber Sie haben ihre Hände nicht zufällig im Spiel. Oder? Ich meine - nicht, dass Sie mir eine Lektion erteilen wollen."
"Nein. Solch perfide Späße erlaube ich mir nicht. Also schön - erzählen Sie mir etwas über die Frauen. Was tun sie so? Wo könnten sie sein? Haben Sie schon die Privatnummern angerufen?"
Mein Gegenüber nickte.
"Natürlich, was denken Sie denn? Ich ziehe meine Unterhosen auch nicht mit der Kneifzange an, Herr Schwarz. Also - was nun?"
Um ehrlich zu sein - ich fühlte mich in diesem Moment etwas überfordert. Die Polizei zu informieren hätte wenig Sinn gemacht. Noch stand ja nicht mal fest, ob und dass die Frauen überhaupt verschwunden waren. Vielleicht waren sie längst hier oben. Wer konnte das bei den vielen Leuten und der relativen Dunkelheit dort draußen schon sagen?
"Wir sollten uns umsehen. Es besteht die Möglichkeit, dass die Frauen doch hier oben sind. Geben Sie mir Ihre Handynummer, damit wir miteinander in Kontakt bleiben können."
Sie notierte mir die elf Zahlen, ehe sie wenig überzeugt winkte und durch die Halle zum Ausgang ging. Sie kam noch bis zur Glastür. Dann, von einer Sekunde auf die andere, brach die Hölle los.

*

Die Tür flog auf, sie wurde regelrecht aus ihren Angeln gerissen. Mehrere Frauen, die sich noch im Inneren des Bahnhofs aufhielten, kreischten wild durcheinander. Auch Natalie Ochsenreiter schrie, duckte sich jedoch gleichzeitig, um der herum fliegenden Tür zu entgehen.
Was wie eine Explosion begonnen hatte, entwickelte sich wesentlich spektakulärer. Keine Flammen, die ins Innere geschlagen wären und keine Druckwelle. Stattdessen betrat eine Frau die Halle, die mich entfernt an eine Person aus den achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert erinnerte. Ihre Haare waren zu einem Kaktus frisiert. Ihr Kleid voller Rüschen und unmodern, ihre Schuhe unpassend für diese Jahreszeit. Ihr Lächeln, welches in ihr Gesicht gemeißelt schien, wirkte falsch und böse. All dies wäre noch nicht wirklich gruselig gewesen, doch ihre gesamte Gestalt wurde von einem grünen Leuchten oder Flimmern umgeben, eine sichtbare Aura, für welche die Menschen um uns herum keine Erklärung fanden. Zudem ging etwas unsagbar Kaltes und Böses von dieser Person aus. Etwas Unaussprechliches, welches in jedem Angst und Entsetzen hervorrufen konnte. Selbst in mir, doch war ich gewillt, mich diesem Gefühl nicht hinzugeben. Ich wusste, wer sie war und stellte mich ihr.
Mit ihren eisgrauen Augen schaute sie sich suchend um, ehe sie Natalie Ochsenreiter entdeckte und mit einem stechenden Blick taxierte.
"Das Quartett ist voll. Du fehlst mir noch in meinem Reigen. Komm, kleine Natalie. Begleite mich in meine Welt, auf dass du ..."
Der Pater reagierte. Er riss seine Waffe hervor, bahnte sich einen Weg durch die Menge, die sich nun zu den Gleisen und den dort wartenden Zügen zurückzog, um sich der Hexe zu nähern. Aber auch ich blieb nicht untätig, tat es ihm gleich und lief los. Mehrfach wurde ich hart angerempelt, schaffte es aber doch, Boden gut zu machen. Mit der Waffe in der einen Hand, den anderen Arm vorgestreckt um mir Platz zu verschaffen, näherte ich mich der Hexe Lilith.
Natalie Ochsenreiter stand vor ihr, ohne sich zu regen. Es war, als habe die Hexe ihr Opfer - und als solches musste ich die Ochsenreiter in diesem Moment sehen - in der Hand. Ob es nun Telepathie war oder Hypnose, wusste ich nicht. Doch dies spielte auch keine Rolle, denn wichtig war nur, die junge Frau vor Lilith zu schützen.
Der Pater bekam noch vor mir freies Schussfeld. Mit beiden Händen hielt er den Griff der Waffe, zielte - und schoss.
Aus dieser Entfernung kann er sie nicht verfehlen. Das muss ein Treffer werden.
Die Frau wurde auch getroffen. Die Wucht der Einschläge warf sie zu Boden, was die Panik um uns herum noch einmal verschärfte. Erst das Auftauchen der Hexe, nun auch noch Schüsse. Wann, schoss es mir durch den Kopf, ist diese verfluchte Halle denn endlich leer?
Die Hexe Lilith lag auf dem Boden. Die Kugel hatte ihr Kleid durchschlagen und war irgendwo in ihren Leib eingedrungen. Sie stöhnte, schien aber nicht wirklich tödlich verwundet.
Natalie Ochsenreiter starrte hinab zu ihr. Noch immer bewegte sie sich nicht. Erst, als ich hart an ihrem Arm zerrte, sie nach hinten und weg vom Eingang und Lilith zog, schien sie aus ihrer Starre zu erwachen.
"Natalie - weg da. Kommen Sie her, verdammt." Meine Stimme überschlug sich fast. Lilith am Boden, der Pater etwas hinter mir, um uns Deckung zu geben und eine junge Frau, die sich nur widerstrebend wegziehen ließ. Eine völlig groteske Situation, wie ich sie nicht mal bei meinem Kampf gegen den Zombie erlebt hatte.
Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Erneut betrat jemand den Bahnhof durch den großen Eingang. Gestalten, die aussahen, als seien sie einem Horrorfilm entsprungen kamen rein, um sich schützend vor Lilith zu stellen.
Mir gefror nahezu das Blut in den Adern beim Anblick dieser Figuren. Das ist purer Horror, dachte ich. Skelette. Es sind bleiche Skelette ohne Haut, Muskeln oder Fleisch auf den Knochen. Wie können sie …
Mein Verstand weigerte sich, das Unfassbare näher zu beleuchten. Ja, es waren Skelette, und sie trugen lediglich dunkle Kutten, unter denen ihre bleichen Gebeine hervorragten. Ihre Augen funkelten in einem dumpfen Rot, bewaffnet waren sie mit silbern glänzenden Schwertern. Sie alle trugen ihre Klingen in der Hand, schauten sich um und machten den Pater und auch mich als Gegner aus. Vielleicht, weil wir bewaffnet waren und nicht flohen.
Lilith kam auf die Beine.
"Komm zu mir, Natalie", rief sie dann, schob sich in den Vordergrund und breitete die Arme aus. "Komm zu mir, um meinen Kreis zu bereichern."
Ihr Blick war dabei jedoch nicht auf die junge Frau gerichtet, sondern auf den Pater. Dieser stand dicht vor ihr, die Waffe noch immer im Anschlag.
Warum schießt er nicht? Warum …
Eines der Skelette reagierte. Schnell, viel schneller, als dass Benedikt noch hätte reagieren können, pfiff das Schwert durch die Luft. Der Hieb erwischte den Geistlichen, schleuderte ihn zu Boden. Sein schmerzerfüllter Schrei hallte durch den Bahnhof.
"Lauf, Natalie. Ich kümmere mich um das hier. Los, lauf."
Damit schubste ich die Frau von mir, riss die Waffe hoch - und konnte doch nicht schießen, da sich Natalie Ochsenreiter in die Schussbahn schob und - angestachelt durch Lilith' Ruf - zu den Skeletten rannte.
"Nein. Nein, das ist …"
Mir blieb nur eine waghalsige Aktion. Seitlich warf ich mich zu Boden, um so freies Schussfeld zu bekommen.
Dreimal drückte ich ab, dreimal jagten die Kugeln in Lilith` Leib. Wieder schrie sie auf und wurde zurückgeschleudert, aber dann erreichte Natalie Ochsenreiter die Skelette, wurde von ihnen empfangen - und diese gesamte Gruppe löste sich von einer Sekunde auf die andere in Luft auf.
Sie waren weg, wie vom Erdboden verschluckt. Was blieb, war eine fast leere Bahnhofshalle, auf dessen Boden ein schwer verletzter Pater lag. Schnell kam ich auf die Beine und eilte zu ihm. Noch im Lauf riss ich mein Handy heraus und wählte die 1-1-0.
Neben Benedikt ging ich in die Knie.
"Hören Sie, Herr Schwarz …" Die Stimme des Paters klang kraftlos. Hin und wieder unterbrach er sich, um zu husten. Blut sprudelte aus seinem Mund hervor. "Sie müssen Lilith aufhalten. Sie wird …"
Er wird sterben. Das war mir in dem Moment klar. Er würde es nicht schaffen, bis der Notarzt hier oben wäre. Und Pater Benedikt wusste es.
"Ich werde mein Bestes tun."
Er griff nach meiner Hand.
"Mein Zimmer. Dokumente, die ..."
Ein Hustenkrampf schüttelte ihn. Blut floss über seine Lippen. So viel, dass es ihm fast die Atmung nahm. Seine Brust war von dem einen Schwerthieb derart aufgerissen, dass ich nicht nur das rohe Fleisch sah, sondern sogar die blanken Knochen. Er musste wahnsinnige Schmerzen erleiden. Dennoch wirkte sein Blick verteufelt klar. Er erlebte jede schreckliche Sekunde seines qualvollen Sterbens.
"Schon gut. Versuchen Sie, durchzuhalten."
Noch einmal wählte ich die 1-1-0, da der Polizeibeamte wieder aufgelegt hatte. Mir war es einfach wichtiger gewesen, dem Sterbenden zuzuhören.
"Bitte ... Mein Zimmer ... Unterlagen für Sie. … Ich ..."
Seine Stimme erstarb, während ich in knappen Worten über das Mobiltelefon Hilfe anforderte. Pater Benedikt tat noch zwei, drei qualvolle Atemzüge, ein Beben lief durch seinen Körper - dann lag er still.
"Verfluchte Scheiße. So eine verfluchte ..."
Menschen umringten uns. Wildes Geschnatter, Schreie und Sensationsgier. Ohne auf ein paar Besserwisser zu achten, die genau wussten, was hier passiert war griff ich nach der Waffe des Paters und steckte sie ein.
Ich hatte Natalie Ochsenreiter verloren, die drei Frauen waren weg und der Pater tot. Schlechter hätte es kaum laufen können.